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AutorenbildLajescha Dubler

Wieso sollte ich für DICH keine Zeit haben (wollen)?

Wir alle sehnen uns nach Verbundenheit: Wir möchten gesehen, gehört und wertgeschätzt werden. Doch oft trauen wir uns nicht, gerade dieses Bedürfnis an eine Beziehung zu stellen. Dabei ist es der Schlüssel für eine gesunde Partnerschaft und Familie, einen lebendigen Freundeskreis und eine Welt ohne Hass und Krieg.


Gelegentlich scrolle ich durch meinen eigenen Blog und verschaffe mir einen Überblick, über welche Themen ich bereits geschrieben habe. «Ich weiss, was Depression ist» (Blogbeitrag vom 14. September 2021) gehört zu den mit Abstand am meistgelesenen Artikeln auf meiner Seite. Die grosse Resonanz kam damals unerwartet, aber überraschte mich nicht. Es ist ein Thema, das fast jeden von uns einmal im Leben tangiert - sei es persönlich oder durch eine Person im näheren Umfeld.

 

Ein Bekannter schrieb mir damals als Rückmeldung: «Es tut mir leid zu hören, dass es so vielen Menschen in deinem Umfeld schlecht geht.» Die Nachricht hatte einen leicht mitleidigen Ton – doch im zweiten Teil der Nachricht gab er zu: «Ich selbst habe in meinem Leben immer wieder an Depression gelitten.»

 

Derartige Rückmeldungen sind nicht selten, wenn ich über Themen schreibe, die landläufig als «schwer» oder «bedrückend» empfunden werden. Oft höre ich dann: «Ich bin froh, ist das bei mir nicht so! Zum Glück habe ich damit keine Probleme!» Meist stellt sich dann im Verlauf des Gesprächs heraus, dass die Person genau mit DIESEN Themen konfrontiert ist. Sie möchte ihnen einfach aus dem Weg gehen, sie nicht an die Oberfläche steigen lassen und weist sie deshalb zuerst einmal von sich. Im Sinne von:


"Wenn ich nicht vom Teufel rede, dann wird er sich auch nicht zeigen."

 

Depression ist nach wie vor – und vielleicht noch mehr als vor zwei Jahren – ein grosses (Tabu-)Thema in unserer Gesellschaft. Seit Corona hat es sich zu einem Notstand entwickelt. Wer einen Therapieplatz sucht, wird fast überall auf die Warteliste gesetzt. Ebenso verhält es sich mit Klinikplätzen. Viele suchen verzweifelt Hilfe, werden aber zuerst einmal abgewiesen. Wenn ich mit Betroffenen rede, bin ich oft selbst ratlos. Ich würde sie gerne an eine Fachperson aus meinem Netzwerk verweisen, weiss aber gleichzeitig, dass sie fast immer anbrennen werden.

 

Vor allem junge Menschen rutschen immer häufiger in die Depression (und Isolation). Eine Bekannte in meinem Alter meinte vor kurzem:


«Als ich vor zwei Jahren in der Klinik war, gehörte ich zu den Ältesten. Das hat mich geschockt.»

 

Ein Argument, das ich in der letzten Zeit oft höre, ist: «Ja, Social Media ist halt das Problem! Die Jungen sind ständig am Handy und der Vergleich mit den Influencern erzeugt Druck und Minderwert.» Neuere Studien belegen dieses Argument. Doch ich glaube nicht, dass die Problematik so eindimensional ist.

 

Unsere heutige Gesellschaft überfordert viele von uns – nicht nur junge Menschen. Das Zuviel an Konsum, Information, Wohlstand und Angebot überschwemmt uns tagtäglich. Wir haben weder die Zeit noch innere Ruhe, das Viele, das uns jeden Tag entgegenkommt, emotional zu bewältigen. Es braucht unglaublich viel Disziplin, gesunde Rituale zu leben und pflegen. Wenn wir morgens verschlafen im Zug sitzen, während einem hektischen Arbeitstag eine kurze Pause einlegen oder am Abend müde und ausgelaugt nach Hause kommen, ist das Handy-Scrollen oder Netflix-Schauen oft die naheliegende und am wenigsten anstrengende Option.


Der Griff zum Handy ist vermutlich DAS Ritual, das wir im 21. Jahrhundert am meisten pflegen.

Die Konsequenzen? Innere Unruhe, die Unfähigkeit sich auf 1 Sache zu konzentrieren oder ganz abzuschalten, das Unvermögen, Stille und Einsamkeit auszuhalten.

 

Im Kloster, wo ich anfangs Jahr meine 9-wöchige-Auszeit verbrachte, bestehen die «Pausen» aus gemeinsamen Gebetszeiten in der Klosterkirche: um 6 Uhr, um 9 Uhr, zur Mittagszeit, am Nachmittag, am Feierabend, vor dem ins Bett gehen. Das mag uns weltfremd und übertrieben scheinen. Beeindruckend ist es dennoch, wie ausgeglichen, heiter und voller Energie diese Mönche sind.

 

Ein älterer Bekannter meinte kürzlich bei einem Besuch: «Ich möchte unbedingt Netflix installieren – weisst du, wie das geht?» Ich schaute ihn ein wenig amüsiert an und meinte: «Ich glaube nicht, dass es weise ist, wenn du Netflix installierst. Das hat Suchtpotential.» Mit grosser Überzeugung meinte er dann: «Doch, doch. Das tut mir sicher gut! Ich kann mich wunderbar vor dem Fernseher entspannen!»


Es ist müssig, junge Menschen an den Pranger zu stellen. Wir alle kämpfen mit diesen modernen Herausforderungen und die wenigsten haben sie im Griff.

 

Doch junge Menschen haben normalerweise noch nicht genügend Ressourcen entwickelt, mit denen sie Überforderung und Druck auf gesunde Weise begegnen könnten. Die Depression trifft sie dann unerwartet und lässt sie in einem Chaos von Gefühlen und Hoffnungslosigkeit zurück. Sie brauchen Hilfe. Doch professionelle Hilfe ist Not am Mann.

 

Der Notstand beschäftigt mich und ich würde ihn gerne beheben. Zeitweise habe ich mir deshalb überlegt, eine therapeutische Laufbahn einzuschlagen, auch wenn es nur ein Tropfen auf den heissen Stein wäre.

 

Unterdessen glaube ich jedoch, dass ein unterschwelliger Ansatz langfristig wirksamer ist. Unterschwellig im Sinne von: Wir sind alle gefragt. Und: Wir können alle einen Unterschied machen.


Der Schlüssel ist «Verbundenheit».

 

«Wir kommen in dieses Leben mit einer natürlichen Sehnsucht und Suche nach Bindung und Verbundenheit. Denn Bindung und Verbundenheit sind gleichbedeutend mit Sicherheit und Leben.» (Trauma-Expertin und Spiegel-Bestsellerautorin Verena König)

 

Die Forschung belegt heute, dass bei vielen Menschen diese Bindung und Verbundenheit schon in frühen Kinderjahren, meist innerhalb des Familiensystems, Störungen erfährt. Dadurch entstehen emotionale Risse und Löcher, die man im Verlauf des Lebens zu füllen oder schliessen versucht: durch einen Partner, Kinder, aber auch durch Ausweich- und Betäubungsstrategien, wie übermässigen Konsum in den unterschiedlichsten Bereichen – ein prägnantes Merkmal unserer heutigen Gesellschaft.

 

Verena König betont in ihren Vorträgen immer wieder: Wenn wir in unserem Umfeld und Alltag gesunden Bindungen und echte Verbundenheit leben, dann hat die Menschheit eine Chance zu heilen.


Wenn wir für nur 1 Person dieses Gegenüber sind, in dem sie Verbundenheit erlebt, kann das entscheidend für ihren Heilungsprozess sein.

 

Nun denken vielleicht einige: "Bei mir in der Familie ist ja alles ok. Wir haben zum Glück keine Probleme." Aber vielleicht lohnt es sich, das eigene Beziehungsverhalten ein wenig eingehender zu reflektieren.

 

Wahre Verbundenheit und gesunde Bindungen in Beziehungen fordern Achtsamkeit auf vielen Ebenen:

 

Zeit haben und verfügbar sein.

Innerlich präsent sein.

Zuhören können.

Nachfragen.

Geduldig sein.

Empathie zeigen.

Verstehen wollen.

Die eigenen Grenzen kennen und die des anderen respektieren.

Den anderen in seiner Andersartigkeit stehen lassen, ohne Anspruch, ihn zu verändern.   

Liebe schenken ohne Bedingung oder Erwartung.

 

Vermutlich kann niemand von uns diese Liste mit Leichtigkeit abhaken. Wir sind keine Supermenschen. Das ist auch nicht das Ziel. Aber sind nicht die oben erwähnten Punkte das, was wir uns in einer echten Beziehung erhoffen? Ist es nicht der Anspruch, den wir an Therapeut:Innen stellen, wenn es niemand in unserem Umfeld abdecken kann?

 

Wenn wir uns ein wenig über diese Punkte Gedanken machen, dann müssen wir uns wohl eingestehen: Eine gesunde Partnerschaft, eine gesunde Familie, ein gesunder Freundeskreis und letztendlich eine gesunde Welt ohne Hass und Krieg, fordern genau das von uns. Wir alle sehnen uns danach. Wir möchten gesehen, gehört und wertgeschätzt werden.


Der Schlüssel ist nicht, NOCH mehr Therapieplätze zu schaffen und noch mehr Fachpersonen auszubilden. Der Schlüssel ist, dass wir – jeder von uns – Verbundenheit im Alltag leben.

  

Wir brauchen wieder Raum und Zeit füreinander, damit wir aktiv zuhören und nachfragen können - geben, ohne zurückzuerwarten.

 

Vor einiger Zeit schrieb ich einem Freund, ob wir uns für einen persönlichen Zoom verabreden könnten (mit Verweis auf die Thematik). Ich traute mich fast nicht, diese Anfrage zu schreiben, weil ich wusste, wie ausgelastet er ist. Seine Antwort kam postwendend. Der erste Satz lautete:


«Wieso sollte ich für DICH keine Zeit haben (wollen)?»

 

Seine Antwort berührte mich tief. Natürlich kann ich nicht immer diese Verfügbarkeit erwarten. Aber er hatte mein Bedürfnis und meine Not gespürt und darauf reagiert. Dafür braucht es offene Ohren. Ein offenes Herz. Einen wachsamen Blick.

 

Wir Menschen kommunizieren gerne zwischen den Zeilen. Nur wenige von uns haben gelernt, unsere (emotionalen) Bedürfnisse klar zu formulieren. Wir verstecken sie lieber kunstvoll in unseren Aussagen, in der Hoffnung, dass der andere das Bedürfnis wahrnimmt und darauf reagiert. Das ist ein hoher Anspruch an eine Beziehung, und führt nicht selten zu Missverständnissen, Enttäuschungen und letztendlich Konflikten.


Wir können einander helfen, indem wir genauer hinhören und hinsehen.

Verbundenheit heisst nicht, dass wir uns verausgaben müssen. Es gibt Menschen, die immer und überall zur Stelle sind, wenn Not am Mann ist. Solche Menschen sind gesucht und die meisten nehmen ihr Angebot gerne in Anspruch. Aber auch diese Menschen kommen an ihre Grenzen und meist herrscht dann eine Weile Funkstille und totaler Rückzug, wenn sie sich zu sehr verausgabt haben. Das wiederum stört die Verbundenheit und kann das Gegenüber verunsichern oder sogar verletzen.

 

Verbundenheit erfordert, dass wir lernen Grenzen zu ziehen. Auch das ist etwas, das viele von uns nur mangelhaft beherrschen. Wir verlieren uns gerne im Gegenüber, oder schotten uns vollständig ab. Beides tut unserer Seele nicht gut und führt dazu, dass wir – nebst dem ganzen Arbeitsstress – nur noch in unserem Mini-Kosmos von Familie und Partnerschaft einigermassen ausgeglichen funktionieren können. Alles andere ist zu viel und überfordert uns.

 

Verbundenheit heisst nicht, dauerhaft präsent sein zu müssen. Es ist vielmehr eine innere Haltung, die ich in der Art und Weise, wie ich dem anderen begegne, zum Ausdruck bringe. Am Ende meiner Kloster-Auszeit bedrückte mich der Gedanke, dass ich viele meiner Weggefährt:Innen vielleicht nicht mehr oder nur noch selten sehen und hören würde (die meisten leben in Deutschland). Die Menschen waren mir so sehr ans Herz gewachsen und die tiefe Verbundenheit, die wir in dieser Zeit erlebten, hatten mir ein Gefühl von Sicherheit und Zuhause vermittelt. Einer dieser Freunde schrieb mir zum Abschied einen berührenden Brief, der mit dem Satz endete: «Die Verbundenheit bleibt.»


«Die Verbundenheit bleibt.»

 

Nach meiner Rückkehr in die Schweiz dachte ich viel über diesen Satz nach: Die Verbundenheit bleibt. Allmählich begann ich zu verstehen: Die Verbundenheit, die geht nicht verloren, wenn man nicht gerade am selben Ort ist oder einander sieht. Sie ist tief im Herz verankert und ich darf wissen: Ich bin nie allein.

 

Dieses Bewusstsein und diese Sicherheit fehlen vielen von uns. Aber wir können diese Wunde heilen, indem wir beginnen, echte Verbundenheit zu leben. Wer sie einmal erfahren hat, weiss: Sie bleibt.

121 Ansichten2 Kommentare

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2 Yorum


Misafir
08 Kas

Starch!!! Und gut sich das Thema wieder zu verinnerlichen

Beğen

Misafir
07 Kas

ja, echte verbundenheit bleibt... und wenn wir sie leben, wenn wir uns darauf einlassen, dann spielen weder zeit noch distanz eine rolle... und weil ich diese verbundenheit mit einigen menschen verspüre, werde ich diese grad jetzt wissen lassen, dass ich an sie denke... danke für deine inspiration...

der meist zufriedene pensionist...

Beğen
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