"Ich weiss, was Depression ist."
Normalerweise fällt mir das Schreiben leicht. Ich sitze selten bewusst hin und nehme mir vor, etwas auf Papier zu bringen. Die Inspiration kommt unterwegs – auf dem Weg zur Arbeit, im Zug, beim Spazieren, am Abend vor dem Einschlafen – und dann halte ich es in diesem Moment fest. Selten überarbeite ich meine Texte im Detail. Ich spüre im Bauch, ob das Geschriebene ein Guss ist und in sich schlüssig.
Beim Thema «Depression» bin ich doch etwas länger stehen geblieben. Eigentlich seltsam, da mich dieses Thema von allen Lebensthemen wohl am längsten und tiefsten beschäftigt. Vielleicht aber auch gerade deshalb. Vielleicht auch, weil ich so viele Menschen kenne, die mit diesem Thema schon in Berührung gekommen sind. Ich habe tiefen Respekt vor dem, was sie mit mir geteilt haben – jede Geschichte ist für sich berührend und schmerzhaft. Gleichzeitig sehe ich aber auch immer wieder Gemeinsamkeiten in dem, was ich und andere erlebt haben. Darüber möchte ich schreiben.
Es lohnt sich, diesem Thema eine grössere Visibilität zu geben und ihm die Stigmatisierung zu nehmen, die es nach wie vor hat.
«Ich weiss, was Depression ist.»
Viele Menschen können diesen Satz unterschreiben. Ich glaube, dass Depression eines der häufigsten unerkannten Gesichter in der heutigen Gesellschaft ist. Der Hunger nach Leben und das Unvermögen, es zu ergreifen. Heute reden wir oft von «Burnout». Das tönt besser und hipper als «Erschöpfungsdepression». Letzteres wäre jedoch der korrekte Begriff.
Depression kann jeden treffen. Wusstest du, dass es «Altersdepression» gibt? Wenn deine Grossmutter (oder dein Grossvater) sich nur noch beklagt, sich kaum mehr bewegt und nicht mehr unter die Leute geht, wenn sie immer vom Sterben redet, wenn sie häufig einfach unbeteiligt dasitzt und vor sich hinstarrt, wenn sie keinen Bezug mehr zum Leben draussen mehr herstellen kann, dann ist das nicht unbedingt eine normale Alterserscheinung, sondern vielleicht Ausdruck einer tiefen/unterschwelligen Depression.
Vom Leben "abhängen" ist keine Erscheinung, die zwangsläufig zum Altern gehört. Aber sie ist immer eine zentrale Komponente von Depression.
Wenn Jugendliche kein Interesse mehr am Leben zeigen, wenn sie nur apathisch im Schulbank sitzen und aggressiv-passiv reagieren, wenn sie plötzlich nur noch schwarz gekleidet und stark geschminkt erscheinen, wenn sie mit Drogen experimentieren oder sich jedes Wochenende voll-laufen lassen, wenn sie auf alles «null Bock» haben, wenn sie Arbeit verweigern oder Aufforderungen ablehnen, wenn sie sich nicht mehr mitteilen, plötzlich massiv an Gewicht verlieren, den ganzen Tag drinsitzen und nur noch gamen oder TV-Serien schauen – dann ist das nicht nur Ausdruck der «normalen» Pubertät, sondern häufig Ausdruck der totalen Überforderung mit dem Leben, dem wachsenden Druck in unserer Gesellschaft und Anzeichen einer Depression. Ablösung und Erwachsen werden kann auch anders aussehen!
Depression wird meist durch ein einschneidendes Erlebnis ausgelöst. Durch einen plötzlichen Verlust oder eine gleichzeitige Verschiebung zu vieler Lebensfelder. Doch das ist nur die Momentaufnahme. Was Depression letztendlich an die Oberfläche bringt, geht viel tiefer und liegt oft viel weiter zurück, als der/die Betroffene anfänglich fassen kann.
Was ist Depression? Wieso nimmt sie überhand? Wieso füllen sich unsere Kliniken - zunehmend auch mit sehr jungen Menschen?
Vielleicht ist es einfacher, beim Begriff «Erschöpfungsdepression» anzusetzen – im vollen Bewusstsein, dass dies nur eine Facette von Depression ist. Wenn wir ein «Burnout» haben, sind wir erschöpft vom Leben. Von unseren eigenen überhöhten Ansprüchen, dem Unvermögen «zur eigenen Erdhaftigkeit und Vergänglichkeit zu stehen» und «unserer Natur gemäss zu leben» (Anselm Grün), vom hohen Tempo, das wir über Jahre an den Tag gelegt haben, von dem ständigen «in der Zukunft» leben und der Unfähigkeit den Moment zu geniessen, vom Verdrängen der eigenen Geschichte und den Verlusten und Traumas, die wir erlebt haben, und vor allem: vom Unvermögen, zu den eigenen Bedürfnissen zu stehen und diese zu äussern.
Depression und Angst
Häufig äussert sich Depression in wachsenden und ausufernden Ängsten. Der Begriff «Angst» hat sich aus dem indogermanischen Begriff «anghu» («beengend») heraus entwickelt. Gleichzeitig ist er mit dem lateinischen Begriff «angustus»/»angustia» («Enge, Beengung, Bedrängnis») und «angor» (würgen) verwandt.
Ängste weisen darauf hin, dass es uns in unserem Leben zu eng geworden ist, dass wir zu lange unsere Bedürfnisse heruntergedrückt und nicht gewagt haben, sie auszusprechen oder Anspruch darauf zu erheben.
Vielleicht bin ich in einer Familie aufgewachsen, wo man die eigenen Bedürfnisse ständig zurückstellen musste, wo ich nicht gehört oder gesehen wurde, wo es immer um die anderen ging, aber nie um mich selber. Vielleicht hat eine Person in der Familie so viel Raum eingenommen, dass die eigene Person daneben verschwand. Vielleicht habe ich jahrelang für meinen Partner gelebt, seine Bedürfnisse übernommen und meine zurückgestellt. Das kann eine Weile – und zum Teil sehr lange – gut gehen. Die Harmonie, nach der wir so oft streben, ist zumindest mittelfristig gewährleistet. Aber irgendwann wird es zu eng und die Luft geht aus. Während die einen ausbrechen und sich rücksichtslos Raum verschaffen (zumindest kommt das in diesem Moment oft so rüber), sind die anderen blockiert und ziehen sich noch mehr zurück, unfähig ihre Bedürfnisse zu äussern. Oft aus Angst, dem Umfeld auf die Füsse zu treten, jemanden zu verärgern oder zu verlieren oder als egoistisch und rücksichtslos abgestempelt zu werden. Innerer Rückzug führt irgendwann zu Depression.
Wenn man diesen Aspekt berücksichtigt mag es seltsam anmuten, dass Depression eine häufige Zeiterscheinung ist. Wir sind doch alle so auf Individualität getrimmt, erziehen unsere Kinder mit möglichst viel Freiheit und Toleranz, betonen die Verwirklichung unserer eigenen Träume und Bedürfnisse, heben das «ich», «ich», «ich» ständig in den Vordergrund. Und trotzdem nimmt die Depression immer mehr zu. Weshalb?
Bei aller Individualität und dem Bedürfnis herausstechen zu wollen und etwas Besonderes zu sein, werden wir gleichzeitig eben auch bewusst oder unbewusst darauf getrimmt, angepasst zu sein, nicht negativ aufzufallen, gesellschaftskonform zu leben, einem gewissen Ideal zu entsprechen (das eben völlig idealistisch ist und wenig mit Realität zu tun hat), in ein Schema hineinzupassen, auf keinen Fall zu scheitern (gibt es "scheitern" überhaupt?) und sich gegen alle negativen Eventualitäten abzusichern.
Damit engen wir uns tagtäglich ein und nehmen uns selbst – und der Gesellschaft – die Möglichkeit, in Freiheit und Eigenständigkeit zu leben. Beides sind Grundkomponenten, damit wir langfristig ohne Depression sein können. Dass sich die Kliniken in den letzten 1.5 Jahren gefüllt haben und viele Psychiater voll ausgebucht sind, ist insofern nicht erstaunlich.
Ich und Du
Eine Freundin hat vor geraumer Zeit einmal kritisch zu meinen Texten bemerkt, dass sie sich zu sehr um das «Ich» drehen und die Gesellschaft zu wenig einbeziehen. Die Kritik hat mich damals sehr getroffen und ich habe mich gefragt, ob das wirklich so ist. Ja, es stimmt: das «Ich» ist eigentlich immer Ausgangspunkt in meinen Texten. Aber von dort aus versuche ich auf das Ganze und das Miteinander zuzugehen. Ich glaube zutiefst, dass wir zuerst auf den Grund des eigenen «Ichs» stossen müssen, bevor wir fähig sind, ein wirkliches Miteinander leben zu können.
Ein wirkliches Miteinander ist nur möglich, wenn wir uns selbst und unsere Bedürfnisse kennen.
Das heisst nicht, dass wir sie dann rücksichtslos und egoistisch ausleben. Aber wenn wir sie verdrängen, aus Angst davor anzuecken oder auf Unverständnis zu stossen, werden wir dem Anderen nie wirklich frei begegnen können. Wir werden Neid verspüren, es dem anderen nicht gönnen, uns minderwertig fühlen oder uns überheben, das Gefühl haben, am Leben vorbei zu leben, Bitterkeit nähren und irgendwann resignieren. Wenn wir uns selbst und unsere Bedürfnisse nicht wirklich kennen, können wir dem Anderen keine Offenheit und Liebe schenken. Wir werden nicht zuhören und werden auch nicht gehört werden.
Wir haben verlernt oder haben vielleicht auch nie gelernt, uns selbst ehrlich anzuschauen, vor dem eigenen Ich nicht davonzulaufen, offen über unsere Ängste, Nöte und unsere Scham zu reden. Es ist nicht so, dass wir alle gestört sind oder tiefe Trauma erlebt haben. Wir benötigen auch nicht alle psychologische/psychiatrische Hilfe. Aber die Tatsache, dass wir immer häufiger zum Psychiater oder Psychologen rennen, hat auch damit zu tun, dass wir in Mikroklimas aufwachsen, wo über diese Dinge nicht oder nicht mehr geredet wird. Unsere Beziehungen sind gefüllt mit dem, was gerade an der Oberfläche schwimmt – selten mit dem, was in der Tiefe vorgeht.
Die "Ich"-Schau ist ein lebenslanger Prozess, der uns aber immer mehr dazu befähigt, das "Du" zu sehen und wahres und echtes Interesse am Gegenüber und an der Gesellschaft zu entwickeln.
Die Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit
Ich habe nicht den Anspruch, das Thema Depression abschliessend zu behandeln. Vielleicht ist dieser Text auch nicht so rund, wie ich mir das wünsche – dafür hat das Thema zu viele Facetten und ist zu komplex. Ich freue mich über Ergänzungen und Kommentare. Letztendlich gibt es wohl kein Richtig oder Falsch. Mein Ziel mit diesem Text ist das, was ich immer anstrebe: In der Hoffnungslosigkeit die Hoffnung zu sehen und diese hervorzuheben.
Wie bei so vielen Lebensthemen glaube ich zutiefst, dass Depression eine Chance ist. Wenn wir die Krise als solche anerkennen, sie akzeptieren und es wagen, die Dinge, die in diesem Prozess an die Oberfläche steigen, anzusehen, wird uns die Depression in eine grössere Freiheit und Eigenständigkeit führen.
Wir werden lernen unsere Bedürfnisse ernst zu nehmen und zu äussern, auch wenn sie beim Gegenüber vielleicht Unverständnis oder Widerstand auslösen. Wir werden erkennen, dass wir letztendlich nur dann wirklich frei sind, wenn wir zu uns selbst und unserer Geschichte stehen und uns mit ihr versöhnen. Wir werden verstehen, dass Ängste keine Krankheit, sondern Ausdruck davon sind, dass wir uns selbst zu lange haben einengen lassen. Wir werden merken, dass die meisten körperlichen Symptome, die häufig Begleiterscheinungen einer Depression sind, keinen Arzt benötigen, sondern ein Hilfeschrei unserer Seele sind, besser auf uns zu hören und uns ernst zu nehmen. Wir werden sehen, dass die tiefe Nacht in uns drin der Anbruch eines neuen Tages sein kann, wo wir das Leben wirklich zu leben beginnen. Wir werden lernen, dass unsere eigene Geschichte – so zerrüttet und kaputt sie uns auch erscheinen mag – kein persönliches Scheitern ist, sondern das, was uns letztendlich ausmacht und uns zum Segen für andere Menschen werden lässt.
Wir werden lernen, unsere Wunden in Perlen zu verwandeln. (Hildegard von Bingen)
Gut geschrieben. Manchmal muss man ganz tief fallen, um dann wieder hochzuklettern und neues anzugehen. Aus der Tiefe kann grosses entstehen! In solchen Momenten sind halt auch Freunde sehr wichtig und da merkt man dann, welches die wirklich guten Freunde sind.
Danke und bis bald
Christian