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  • AutorenbildLajescha Dubler

Die Talentshow

Ich sitze mutlos da und frage mich einmal mehr, was das alles soll. Wieso überhaupt erst beginnen? Wer will schon meine Musik hören? Meine Texte lesen? Es interessiert doch sowieso niemanden.


Der Gedankengang geht meist in etwa so weiter: "Wahrscheinlich ist es den Leuten sogar peinlich, wenn ich etwas veröffentliche. Irgendwann werden sie merken, dass ich gar nicht wirklich begabt bin. Dass alles nur eine Blase war und nichts dahinter. In der Zwischenzeit halte ich die Blase mit beeindruckenden Social Media-Posts aufrecht. Zumindest beherrsche ich diese Kunst unterdessen hervorragend..."


“Impostor Syndrom” nennt man diese Haltung, die heute wieder mal Regie in meinem Innenleben übernimmt.

Manchmal gibt es in der englischen Sprache einfach treffendere Ausdrücke, die sich nur umständlich übersetzen lassen. Es wird mit “Hochstapler Syndrom” beschrieben - was aber die Gefahr in sich birgt, gerade das Gegenteil von dem auszusagen, was es eigentlich bedeutet.


Menschen, die am “Hochstapler Syndrom” leiden, sind bei weitem keine Hochstapler. Eher das Gegenteil davon. Sie leben in der ständigen Angst und Ungewissheit, dass sie Hochstapler sein könnten, die irgendwann von ihrem Umfeld “entlarvt” werden. Sie fragen sich insgeheim die ganze Zeit: Bin ich ein Hochstapler und steht eigentlich gar nichts hinter meinen beruflichen Leistungen und Erfolgen?


Das Impostor Syndrom dehnt sich aber weit über die berufliche Identifikation hinaus und kann alle Wesensteile eines Menschen ergreifen. Sein Selbstbild, sein Körperbewusstsein, seine Beziehungen etc.


“Impostors” denken häufig, dass sie das, was sie haben, gar nicht wirklich verdienen.

Sie denken, dass es ein Zufall war, dass sie diesen tollen Job oder diese Auszeichnung/Anerkennung oder vielleicht auch diesen Partner erhalten haben. Dass hinter allem nur eine perfekte Täuschung steht. Die Folge ist die ständige Angst, dass irgendjemand irgendwann herausfindet, dass die Anerkennung gar nicht verdient war, weil in Wirklichkeit nicht dahintersteht.


Es gibt unzählige Ausführungen auf dem Internet über das “Impostor Syndrom” - z.T. hochkomplex. Es scheint, dass unsere moderne Gesellschaft regelrecht davon infiziert ist – und zwar alle Mitglieder davon, auch wenn es häufiger Frauen sind, die es zugeben. Vor allem aber der Teil der Gesellschaft, der hohe Erwartungen an sich selber stellt, grosse Ziele und Visionen anstrebt. So wie ich.


Das Beruhigende: Ich bin nicht allein in diesem Klub. Bei weitem nicht.

Die zum Teil komplexen Ausführungen und Definitionen des “Impostor Syndroms” lassen sich meiner Ansicht nach mit ein paar simplen Begriffen herunterbrechen und umschreiben. Es sind die altbekannten Freunde: Minderwert, Selbstzweifel, mangelndes Urvertrauen. Dinge, mit denen die meisten von uns kämpfen. Dinge, die vor allem dann zum Thema werden, wenn wir uns mit anderen vergleichen.


Ein Vergleich mit anderen kann mitunter derart frustrierend und entmutigend sein, dass wir uns entschliessen, unser Talent gar nicht erst hervorzuholen, sondern lieber irgendwo zuhinterst in einem Acker zu vergraben.

Wir schleichen uns davon. Mitten in der Nacht. Wenn uns niemand sieht. Dann besteht wenigstens nicht die Gefahr, dass ich mich beweisen muss oder irgendwann zugeben muss, dass ich gescheitert bin.


Es gibt eine wunderbare alte Geschichte, die das Impostor Syndrom auf den Punkt bringt:


Ein reicher Gutsherr beschliesst, für längere Zeit auf Reisen zu gehen. Er ruft seine Arbeiter zusammen und vertraut ihnen sein Guthaben an (in der Geschichte heissen sie auch “Talente”, was dem damaligen Geldwert entsprach). Dabei verteilt er es unterschiedlich, ganz nach seinem Ermessen und ihren unterschiedlichen Fähigkeiten. Er ermutigt sie: Nutzt die Zeit, investiert und macht Geschäfte mit den euch anvertrauten Talenten, bis ich wieder zurückkomme.


Der eine Arbeiter erhält 10 Talente, der andere 5, wieder ein anderer 2 usw. Die Arbeiter, die mehrere Talente erhalten haben, machen sich sogleich daran, mit ihnen zu wirtschaften. Schon bald vermehren sich die Talente aufgrund ihres Investments. Derjenige Arbeiter jedoch, der nur 1 Talent erhalten hat, schämt sich, dass er so wenig erhalten hat. Er geht weg, gräbt ein Loch in die Erde versteckt das ihm anvertraute Geld.


Als der Gutherr nach längerer Abwesenheit zurückkehrt, ruft er seine Arbeiter zusammen und verlangt Rechenschaft von ihnen. Er lobt diejenigen Arbeiter, die ihre Talente erfolgreich vermehrt haben: Ihr seid im Kleinen treu gewesen – deshalb werde ich euch nun eine grössere Aufgabe und mehr Verantwortung übertragen.


Zuletzt kommt der Arbeiter, der sein Talent im Acker vergraben hat. Er meint: Hier hast du dein Geld zurück. Ich habe es weglegt und für deine Rückkehr aufbewahrt. Du bist ein strenger Gutsherr und hättest sowieso mehr verlangt, als du mir damals gegeben hast.


Der Gutsherr wurde zornig und meinte: Du bist ein schlechter und fauler Arbeiter. Du hättest wenigstens mein Geld auf die Bank bringen können. Dann hätte ich es bei meiner Rückkehr mit Zinsen zurückerhalten! Daraufhin nahm er dem Arbeiter das eine Talent weg und gab es dem, der den grössten Gewinn erwirtschaftet hatte.


Diese Geschichte wurde über die Jahrhunderte hinweg vielfach interpretiert. Auch wenn es nicht wirklich um “Talente” im heutigen Sprachgebrauch geht, lässt es sich doch auch wunderbar in diese Richtung übertragen.


Wie oft denken wir doch, dass das, was uns gegeben ist, nicht so gut ist wie das des Anderen.

Wir hadern mit unseren Fähigkeiten, Begabungen und Talenten. Vor allem wenn der Blick nach rechts oder links fällt, sind wir oft frustriert, weil das des Anderen viel mehr zu glänzen scheint.


Dabei geht es den meisten von uns gleich. Wir alle vergleichen – mal mehr und mal weniger. Die Folge davon ist altbekannt: Entweder richten wir uns innerlich stolz auf oder wir versinken im Selbstmitleid und Minderwert. Die gesunde Mitte - nämlich mit dem, was uns “anvertraut” wurde zu wirtschaften und es gewinnbringend einzusetzen, finden wir oft erst in der Lebensmitte.


Die Versöhnung mit den eigenen Begrenzungen, aber auch die Dankbarkeit für das Viele, was wir an ganz eigenen Begabungen und Talenten haben, ist oft ein lebenslanger Prozess.

Wenn wir einmal diesen Weg beschritten haben, kann sich unser Potential erst richtig entfalten. Wenn wir nicht mehr nach links und rechts schielen, sondern voll in dem aufgehen, was uns zutiefst begeistert – dann, dann beginnt die wahre Entfaltung unseres Seins.


Das sind die inspirierenden Menschen, die wir so oft bewundern. Die sich nicht von den Meinungen anderer beirren lassen. Die nicht auf die Bestätigung des Aussen warten. Die nicht die Erlaubnis abwarten, ihren Traum zu leben. Solche Menschen sind im "Flow”. Ein weiterer Trend-Ausdruck (obwohl er doch schon relativ alt ist).


Wenn wir im “Flow” sind, dann zapfen wir unsere ureigensten Ressourcen an. Diejenigen, die kein anderer in derselben Ausprägung hat. Und dann schaffen wir Dinge, die niemand anders sonst erschaffen kann.


Dabei geht es gar nicht um Leistung oder Erfolg. Sondern in erster Linie darum, zu dem zu werden, was schon immer in uns angelegt war.

Ich höre immer wieder einmal: “Ja, du hast ja die Musik. Ich hingegen habe keine Leidenschaft, keine besonderen Talente”. Und hier beginnt es schon. Wir verstecken das, was wir haben im Acker.


Als ich vergangenen Frühling in Irland war, besucht ich viele Musik-Sessions in den Pubs. Mein langjähriger Musiker-Freund Christy forderte mich an diesen Abenden immer wieder mal auf, einen Song oder ein Instrumentalstück beizusteuern. In der Vergangenheit habe ich mich oft “geziert”, wenn man das so nennen kann. Ich habe mich hinter Aussagen versteckt wie “nein, meine Songs passen nicht hier rein”, oder “man kann mich sowieso nicht hören, es ist viel zu laut” oder schlicht und einfach “ ich habe nicht wirklich etwas beizusteuern”.


Das habe ich durchaus immer ernst gemeint und selbst geglaubt. Letztendlich war es aber auch falsche Bescheidenheit und viel Stolz: nicht so gut zu sein wie die anderen, nicht denselben Applaus zu erhalten am Schluss, nicht alle Zuhörer in den Bann ziehen zu können etc.


Auch dieses Mal kam ich zuerst mit diesen Vorwänden. Christy schaute mich an und meinte: Aber das ist doch der Sinn der Sessions: Dass wir alle etwas beitragen, mit dem was wir haben. Auch wenn es nur ein kleiner, einfacher Tune ist – spiel ihn mit deinem ganzen Wesen und mit aller Hingabe. Das genügt.


Die Aussage hat mich nachdenklich gemacht und dazu gebracht, mich selbst zu überwinden. Und ja: es haben nicht alle im Pub aufgehört zu reden. Ich habe nicht alle in den Bann gezogen. Es war kein perfekter Moment. Aber ich habe ganz vielen Leuten eine Freude bereitet – mit dem Wenigen, das ich in diesem Moment beigesteuert habe.


Was ist der Wert, den ich dem, was ich habe, beimesse?

Bevor du jetzt kommentierst, dass du glücklicherweise NICHT am “Hochstapler-Syndrom” leidest, denk nochmal in Ruhe darüber nach. Laut Statistik betrifft es 70% aller Menschen mindestens einmal im Leben. Und interessanterweise hat es seit der Pandemie rasant zugenommen.


Aber welcher Gedanke mir noch weitaus wichtiger ist: Wann hast du das letzte Mal deine Talente und Begabungen bewusst wahrgenommen und dein Umfeld daran teilhaben lassen? Ich denke dabei nicht in erster Linie an hochragende Talente (oder wie wir es auch nennen mögen), sondern die einfachen Dinge, die dich als Mensch einzigartig machen: Die Gabe der Gastfreundschaft, der Ästhetik, des Zuhörens, des Ermutigens, des Zusammenbringens und Vernetzens, der Freundschaft, des Begeisterns, der Weisheit....


Es heisst so schön, dass man das “Licht nicht unter den Scheffel stellen sollte.” Es gibt so vieles, was wir ausgraben und ans Licht bringen sollten. Damit wir alle daran teilhaben können.

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