Sonntagnachmittag. Oder: Was Rainhard Fendrich mit Advent zu tun hat.
- Lajescha Dubler

- vor 11 Stunden
- 7 Min. Lesezeit
„Sie sind eine schöne Frau!“ Einen Moment lang schaut sie mich ungläubig an, dann strahlt ihr Gesicht auf. Ich bin selbst etwas verwundert. Der Satz ist mir einfach so rausgerutscht. Die Frau, die mir gegenübersitzt, ist schon über 90 Jahre alt. Doch jetzt, wo sie lacht, wirkt sie wie ein junges Mädchen. Und ja: schön.

Der Moment ist flüchtig, wie so oft. Sie dreht den Kopf verschämt zur Seite. „Meinen Sie?“
Der Moment ist vorbei. Sie versinkt wieder in ihren Gedanken, Erinnerungen.
Sonntag Nachmittag um viertel drei
jetzt is die Besuchszeit glei vorbei
Er hat sein schönsten Anzug an
und geht so grad wie a no kann zum Fenster
und wart wia scho so oft
Wir sitzen draussen vor dem Spital und trinken eine Tasse Kaffee. Ich lernte die Frau heute Morgen kennen, als ich sie in ihrem Zimmer abholte und den Rollstuhl in den Spitalgottesdienst im Untergeschoss schob. Vor dem Lift meinte sie unwillig: „Ich lasse mir nicht gerne helfen. Ich musste mir nie helfen lassen!“
Wer lässt sich schon gerne helfen? Es ist einfacher zu helfen, als sich helfen zu lassen.
An die Schwestern hod a si scho gwöhnt
Sie behandeln eam als wia a klanes Kind
Er derf aufs Heisl ned alla
und patzt a si beim Essen an
kriegt er nachher ned amoe sei Schaln Kaffee
Nach dem Gottesdienst schaut sie mich fast flehend an: „Bitte fahren Sie mich noch nicht zurück. Ich möchte gerne draussen einen Kaffee trinken.“ Einen Moment lang zögere ich und sage dann: "Aber sie werden sie suchen!“ Sie winkt verächtlich ab: „Denen bin ich doch egal.“ Etwas später eröffnet sie mir, dass sie am Dienstag ins Altersheim einziehen muss. Ihre Stimme tönt mutlos, traurig. Altersheim – das mutet bei vielen wie Endstation an. Ausrangiert werden. Vergessen gehen.
Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit. Vor dem Alleinsein. Vor dem Nicht-Mehr-Gebrauchtwerden. Vor Dem-Anderen-zur-Last-fallen.
Haben wir nicht alle Angst davor?
Es is eam klar, dass des für eam
und alle andern besser is
A alter Mann des is und bleibt a schware Last
Und jeder hod eam gsogt: Des Heim
des is für di des Paradies
weu du dort alles wos du brauchst ganz afoch hast
Wir sitzen an diesem Nachmittag lange draussen in der Frühlingssonne. Es ist ein Wechselbad von herzhaftem Lachen, unerwarteten Tränen und Gefühlsausbrüchen. Eine Achterbahn von Erinnerungen, wie sie nur das Leben mit sich bringt: Der Vater, vom dem sie geschlagen wurde. Der Mann, der sie betrogen hatte und in Schulden stürzte. Der Sohn, der sich „zu Tode trank“. Die Tochter, die sie zwar noch besucht, aber: „Sie kommt nicht gerne, das spüre ich“.
Er sicht des alles ei, nur tät a gern
wieder amoe Kinderlachen hean
Seine Enkerln aufn Schoß
ah na, de san ja scho zu groß
Na jo, er hods halt lang scho nimma gsegn
Mein Herz tut weh. Es ist, als ob sich mein Gegenüber selbst schlagen würde. Für all das, was in ihrem Leben „schief“ gelaufen ist. So wie sich die Menschen im Mittelalter oft geisselten. Blutig schlugen für die eigenen Sünden und Laster.
Sich selbst bestrafen und verurteilen für das, was man falsch gemacht hat. Kennen wir das nicht alle? Vielleicht nicht mehr mit richtigen Peitschen oder Ruten, doch oft genug mit harten Worten und Selbstanklage.
Ich schaue mein Gegenüber immer wieder an. Möchte das Leben hinter ihren feinen Gesichtszügen aufspüren. Versuche sie zum Lachen zu bringen. Denn wenn sie lacht, dann ist sie schön. Wunderschön und wieder jung. Dann spüre ich die unglaubliche Stärke und Grösse, die in dieser kleinen Person steckt. So wie in den meisten von uns. Und es macht etwas mit mir. Es gibt mir Hoffnung, dass es noch ein Leben gibt – auch wenn man das Gefühl hat, das Leben sei vorbei.
Sonntag Nachmittag dreiviertel drei
jetzt is die Besuchszeit glei vorbei
Er waß, dass er nur hoffen kann
Sie wern doch ned vergessen ham
Auf die halbe Stund am Sonntag Nachmittag
Ich schaue sie fast bittend an: „Schenken Sie heute Ihrer Tochter dieses Lächeln, das sie mir gerade schenken?“
Kinder sind ein Geschenk, aber keine Garantie, dass unser Leben im Alter erfüllt ist und nicht einsam wird. Wie oft wenden sich die Kinder von den Eltern ab. Aus Enttäuschung, weil sie nicht das bekamen, was sie sich erhofften. Dabei geben doch alle ihr Bestes. Nur: Was ich selbst nie bekommen habe, ist schwierig zu geben. Es braucht einen tiefgehenden Prozess von Heilung, damit ich fähig werde, das zu geben, was mir damals gefehlt hat. Heilung und eine neue Lebensperspektive sind möglich. Auch mit 90 Jahren.
Vor rund 1.5 Jahren begann ich im Spital zu arbeiten. Es sind kleine, kurze Einsätze. Natürlich „mache“ ich etwas für andere. Doch im Grunde genommen mache ich es für mich – das wird mir jedes Mal neu bewusst.
„Wenn wir das geben können, was wir selbst in einem (schwierigen) Moment vermisst haben, dann wird etwas in uns heil.“
Eine liebe Freundin, die im Bereich der Lebensberatung arbeitet, schafft es immer wieder, die Dinge in ein positives Licht zu stellen. So wird der Einsatz an Weihnachten – mit dem ich persönlich traumatische Erinnerungen an das Spital verbinde – zu einem Moment, der etwas in mir wiederherstellt. Ich erhalte die Möglichkeit, an einem Ort und zu einer Zeit Zuwendung, Aufmerksamkeit und ein Lachen zu schenken, wo ich es selbst so dringend gebraucht hätte.
Kennen wir nicht alle diese Momente? Momente, wo wir jemanden gebraucht hätten, der uns zuhört, der uns in den Arm nimmt, der uns ermutigende Worte zuspricht und uns wieder aufrichtet. Der uns sagt: „Ich bin stolz auf dich!“ oder „Du schaffst das!“ und „Ich bin für dich da!“ Der uns Liebe schenkt – einfach so. Unverdient und unerwartet.
Es ist nicht einfach, solche Momente des Gescheitertseins, des Alleingelassenseins, des Nichbeachtetwordenseins, des Unverstandenseins, des Ausgelachtwordenseins, des Entwürdigtwordenseins zu vergessen. Die Erinnerung ist oft mit einem bitteren Nachgeschmack verbunden. Ich glaube auch nicht, dass man sie vergisst. Für das sitzt sie meist zu tief. Aber wir können sie verwandeln.
„Die Wunden in Perlen verwandeln.“ (Hildegard Bingen).
Ein Weg der Wandlung ist das Geben. Das zu geben, was man damals selbst so dringend gebraucht hätte. In diesem Akt der Selbstüberwindung passiert oft etwas Wunder-volles: Unsere eigene Wunde schliesst sich.
Ich verwende so dramatische Worte, weil es sich eben oft wie ein (inneres) Drama anfühlt. Für das Aussen selten sichtbar, ist es für einem selbst ein richtiger Kampf, das Ego zu überwinden und sich dem anderen zuzuwenden. Doch dieser einfache Akt wirkt Wunder in einem Alltag, der keine Zeit für solche Momente zuzulassen scheint.
„Ich möchte nicht alt werden. Lieber sterben, bevor ich hilfsbedürftig werde.“
Diesen Satz habe ich schon oft gehört. Der Gedanke, irgendwann die Selbstbestimmung abgeben zu müssen, die Körperpflege nicht mehr selbst ausführen zu können, sich nicht mehr vollends unter Kontrolle zu haben, löst wahrscheinlich in den meisten ein Unbehagen aus.
Trotzdem frage ich mich, ob nicht genau darin das Geheimnis der Menschwerdung liegt. Wir sprechen von „Demütigung“, aber Demut ist letztlich sich seiner Menschlichkeit bewusst zu werden. Auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, fordert das Gegenüber in seinem Menschsein heraus. Wenn wir einander nie helfen müssen, dann sind wir auch nicht aufeinander angewiesen, nicht dazu angehalten, unsere Menschlichkeit unter Beweis zu stellen. Und wenn wir uns nicht helfen lassen, dann geben wir unserem Nächsten nicht die Chance, seine Menschlichkeit zu leben.
Gemeinschaft heisst, füreinander da sein. Einander beistehen. Das ausgleichen, was in Schieflage gerät. Liebevoll umarmen, was schwach und bedürftig ist.
Es ist einfacher, sich mit Flüchtlingen und Betroffenen von grossen Katastrophen zu solidarisieren. Dort können wir eine gewisse Distanz wahren, die in unserem nächsten Umfeld nicht möglich ist. Hier werden wir gespiegelt und mit unseren eigenen Ängsten konfrontiert.
Der Sinn des Lebens
Im Laufe unserer Kaffee-Stunde setzt sich ein junger Mann zu uns, der im Rahmen der Spitex eine Umfrage zum Thema „Sinn des Lebens“ macht. Das Gespräch fliesst nun weiter, schliesst sich mühelos an das an, was zu zweit begonnen hat. Wir denken über Fragen nach, die zeitlos sind: „Was würde ich heute anders machen?“ „Auf was bin ich stolz, wenn ich zurückblicke?“ „Was würde ich meinem jüngeren Ich sagen?“
Wir drei lachen viel. Es fliessen weitere Tränen. Zeitweise steigen Wut und Enttäuschung hoch. Und dazwischen denke ich immer wieder staunend: Es ist schön, Mensch(lich) zu sein. So befreiend.
Als ich meine neue Freundin wieder Richtung Eingang schiebe, kommen wir an einem kleinen Hund vorbei, der schlafend in der Sonne liegt. Er sieht wie ein kleiner roter Fuchs aus, mit buschigem Schwanz. Sie bückt sich in seine Richtung und sagt verwundert: „Was ist denn das? Eine Katze?“ Einen Moment lang habe ich vergessen, dass sie fast nichts mehr sieht. Ich beschreibe ihr, wie der kleine Hund aussieht.
Wir sind aufeinander angewiesen. Das habe ich heute neu gelernt.
Die Tür geht auf, die Schwester schaut eam an
und sicht die Augen von an alten Mann
Für den´s jetzt nix mehr gibt
weil er hod doch nur no glebt
für a halbe Stund am Sonntag Nachmittag
Im Zimmer angekommen schiebe ich sie direkt zu dem kleinen Tisch beim Fenster. Eine junge, sympathische Pflegefachfrau kommt herein und stellt ihr das Mittagessen hin. Sie fragt: „Und, wie war ihr Morgen?“
Die alte Frau schaut einen Moment vor sich hin, dann sagt sie mit fester, zufriedener Stimme:
„Es war richtig gut. Ich habe zwei nette Menschen kennengelernt.“
Wir verabschieden uns mit einem Lachen voneinander. Es ist dieses Lachen, das heute alles verändert hat. Eine kleine Liebesgeschichte am Sonntagnachmittag.
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Was hat das mit Advent zu tun?
Das Geheimnis des Advents und der Weihnachtszeit ist die Menschwerdung. Für mich ist es eine besondere Einladung, meine Menschlichkeit und Liebe in den kleinen Momenten des Alltags zu üben.
„Es ist einfach, die Menschen in der Ferne zu lieben. Es ist nicht immer einfach, die Menschen zu lieben, die uns nahestehen. Es ist einfacher, eine Tasse Reis zu geben, um den Hunger zu lindern, als die Einsamkeit und den Schmerz eines ungeliebten Menschen in unserem eigenen Zuhause zu lindern. Bringen Sie Liebe in Ihr Zuhause, denn hier muss unsere Liebe zueinander beginnen.“ (Mutter Teresa)
Quelle des tiefgründigen Songtextes, den ich in diesem Text verwende: Sonntag Nachmittag - Rainhard Fendrich




SONNTAGNACHMITTAG...
wunderschöne worte... untermalt von einem traurigen lied...
was ein lächeln, was kleine momente der wahrnehmung, der wertschätzung, der aufmerksamkeit für eine unschätzbare wirkung haben, das können letztlich nur die wirklich empfinden, denen all das im alltag fehlt... lasst uns doch alle mehr lächeln, mehr anteilnahme, mehr aufmerksamkeit verteilen und auch annehmen...