Heimat. Zuhause. Was bedeutet das für dich?
Vor vielen Jahren brachte eine Bekannte im Zusammenhang mit uns Kindern (ich habe einen Bruder und eine Schwester) den Begriff “Heimatlosigkeit” auf. Als ich ihre Worte hörte, regte sich eine tiefe, unfassbare Traurigkeit in mir und ich merkte zum ersten Mal, dass ich dieses Gefühl schon ein Leben lang mit mir herumgetragen hatte.
Ich bin in Österreich aufgewachsen und mit 10 Jahren in die Schweiz gekommen. Ständige Veränderungen und ein neues “Zuhause” finden, waren schon früh Teil meines Lebens und eine Normalität für mich. Die Fähigkeit, sich schnell auf Veränderungen, neue Umstände und unbekannte Menschen einzustellen, war mir in die Wiege gelegt worden und ich betrachtete es in erster Linie als einen Vorteil.
Erst im Erwachsenenalter erkannte ich allmählich, dass es hier ein tiefes Loch in mir gab. Das Gefühl “nicht dazuzugehören”, nicht zu wissen “woher man kommt”. Ich wusste nicht, was es heisst, eine “Heimat” zu haben.
Wenn man sich solcher “Löcher” erst mal bewusstwird, dann tun sich plötzlich innere Abgründe auf, von denen man gar nicht wusste, dass sie existieren.
Doch ich durfte die Erfahrung machen, was es heisst, Heimat in einem anderen Menschen zu finden. Bei jemanden anzukommen, der immer für einem da ist. Der einem ohne Worte versteht. Der einem auffängt, wenn sich diese Löcher wieder auftun. Es gibt kaum etwas, das dieser Erfahrung gleichkommt.
In meiner Unterrichtstätigkeit gebe ich meinen Lernenden jeweils die Aufgabe, einen Text über “Heimat” zu schreiben. Sie müssen dafür einen Elternteil interviewen und dann deren Sicht in Portrait-Form wiedergeben. Die meisten von ihnen haben Migrationshintergrund und sind im jungen Erwachsenenalter in die Schweiz gekommen. Die Eltern liessen oft alles zurück: Familie, Freunde, Haus, Beruf. In der Schweiz investierten sie alle ihre Energie und Zeit darin, eine neue und bessere Existenz für ihre Kinder aufzubauen.
Viele dieser Eltern sind bis heute nicht wirklich “angekommen”. Sie sprechen oft sehr schlecht Deutsch (vor allem die Frauen/Mütter) und das soziale Netz beschränkt sich meist auf die Familie. Aus ihren Antworten hört man heraus: “Familie, das ist meine Heimat. Und irgendwann werde ich in meine Heimat zurückkehren.” Es ist oft selbstverständlich, dass der “Clan” zusammenbleibt und die Kinder auch mit ihrem späteren Partner in der Nähe oder sogar im selben Haus wohnen. Familie ist alles. Familie ist Heimat.
Ein immer grösserer Teil unserer Gesellschaft hat Migrationshintergrund. Wenn ich meine Lernenden frage, woher sie kommen, kommt meist etwas irritiert die Antwort: “aus der Schweiz”. Doch wenn sie sagen “daheim”, oder “im Sommer gehe ich nach Hause”, dann meinen sie Kosovo, Bosnien etc. Das führt mitunter zu interessanten Missverständnissen, weil sie mit einer Selbstverständlichkeit von “daheim” reden, dabei aber selten die Schweiz meinen. Wenn wir tiefer ins Thema eintauchen, dann wird plötzlich klar: “Wir gehören nirgends richtig hin. Weder hier noch dort.”
Heimatlosigkeit ist für sie eine Normalität, über die sie selten aktiv nachdenken. Aber sie ist bei vielen Familien in der Schweiz eine Realität.
An der diesjährigen Winterthurer Jungkunst gab es eine berührende Inszenierung von einem jungen Erwachsenen 2. Generation. Die Eltern hatten damals, als Jugoslawien auseinanderbrach, ihre Heimat verlassen und sind in die Schweiz gezogen. Der junge Mann, der an der Jungkunst teilnahm, hatte Ziegelsteine und verschiedene Objekte auf einer Fläche ausgebreitet. Dem Betrachter, der sich etwas Zeit nahm, wurde auf eindrückliche Weise aufgezeigt, was es heisst, “heimatlos” zu sein. Die Ziegelsteine symbolisierten ein Haus. Ein “Zuhause”, das auseinandergenommen worden war und wieder neu aufgebaut werden musste.
Die meisten von uns verbinden Heimat mit einem Ort und vor allem mit Menschen. Mit dem Partner. Der Familie. Den Liebsten.
Doch viele Menschen müssen im Leben die schmerzliche Erfahrung machen, dass diese “Heimat” von einem Moment auf den anderen verloren gehen kann. Dass man gezwungen ist, einen Ort zu verlassen. Dass der Partner stirbt oder einem verlässt. Die eigenen Kinder den Kontakt abbrechen.
Dann ist man plötzlich wieder mit der Frage konfrontiert: Was ist Heimat? Wo finde ich eine neue Heimat? Wenn wir keine Antwort darauf finden, dann füllen wir dieses Loch einfach auf mit Aktivitäten, Dingen und Menschen, die uns ablenken.
Der einzige Mensch, der immer Teil von mir sein wird, bin ich selber. Der Ort, an dem ich ein beständiges Zuhause finden kann, ist letztendlich in mir drin.
“Das Kind in dir muss Heimat finden” ist der Buchtitel des Bestsellers von Stefanie Stahl. Sie hat vielen Menschen die Augen geöffnet, die diese Heimatlosigkeit mit sich herumgetragen haben. Wenn ich Heimat und ein Zuhause in mir selbst finde, dann bin ich wirklich angekommen.
Das heisst nicht, dass ich keine anderen Menschen oder Orte mehr brauche, die mir Geborgenheit und Zugehörigkeit geben. Wir alle sehnen uns danach und es ist ein wunderschönes Geschenk, das wir uns gegenseitig geben können. Aber wirkliche Heimat, die diese tiefen Löcher in uns füllt, die können wir nur in uns selbst finden.
Menschen, die Heimat in sich selbst gefunden haben, haben eine unwiderstehliche Ausstrahlung.
Sie ruhen in sich. Sie sind nicht mehr auf der Flucht vor sich selbst. Sie müssen nichts verdrängen. Sie müssen auch nicht ständig ihre Agenda füllen und sich mit sozialen Aktivitäten überfrachten. Trotzdem sind sie viel tiefer verbunden mit sich und den Menschen als der Grossteil unserer Gesellschaft.
Wir alle kennen solche Menschen, nur oft nicht persönlich. Meist sind es überragende Persönlichkeiten, die Geschichte geschrieben haben. Wie Nelson Mandela oder Mutter Theresa. Wir bewundern sie und sind beeindruckt von ihrer Gelassenheit, ihrer Tiefe und der Ausstrahlungskraft, die ihre Leben haben. Dass wir dasselbe erreichen könnten, ziehen wir meist gar nicht in Erwägung.
Dabei haben diese Menschen vor allem eines gemeinsam: Sie haben Heimat in sich selbst gefunden. Sie sind zur Ruhe gekommen und wissen: Auch wenn ich alles verliere und wenn mich alle verlassen – Ich selber verlasse mich nicht und ich selber verliere mich nicht. Hier liegt diese grosse innere Freiheit, nach der sich so viele von uns sehnen.
Das letzte Stück von meinem Album PIECES heisst “Home”. Es ist Ausdruck von dieser Sehnsucht, Heimat in sich selbst zu finden.
Heimat
auf der Suche
ruhelos unterwegs
die Sehnsucht
zieht dich
immer weiter
doch endlich
die Seele kommt zur Ruh
du spürst
hier gehöre ich hin
hier bin ich zu Hause
das ist mein Ort
hier werde ich
mein Wissen weitergeben
tun und helfen
und meinen Weg weitergehen
Danke und liebe Grüsse
Christian
Der Gast heisst Peter :-) sorry, ging leider unter.
Liebe Lajescha, danke für deine wertvollen Gedanken. Ich denke, es gibt zwei Arten von Heimat: Eine ist die Umgebung, woher wir stammen, also ein starker geographischer Akzent. Die andere ist die seelische Heimat, die auch von lieben Menschen abstammt, die uns umgeben, vor allem aber mit unserem Glück, unserer Ausgeglichenheit mit uns selber. Wenn wir einen Tag einfach allein verbringen können und zufrieden vor uns hinwerkeln oder ganz einfach faulenzen, Musik hören, Filme schauen, Puzzles kreieren, etwas Gutes kochen oder kommen lassen usw. Viele ertragen diese Ruhe heute nicht mehr, dementsprechend hektisch und gestresst bestreiten sie ihren Alltag. Und dann ist auch dieser Begriff "Heimat" wie so vieles andere auch in der heutigen Zeit so viel vielschichtiger geworden im Vergleich…