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Das Dankbarkeits-Ritual

Autorenbild: Lajescha DublerLajescha Dubler

Kannst du mir drei Dinge aufzählen, für die du dankbar bist? Und drei Dinge, auf die du dich heute freust? Falls du wie ich länger als 5min dafür brauchst, muss dich das nicht gross beunruhigen. Es geht wahrscheinlich den meisten so.

Dankbarkeits-Rituale gehören heute zum Repertoire eines guten Bürgers. Ich höre und lese überall davon. Auch die Eingangsfrage stammt nicht von mir, sondern aus einem kürzlich geführten Gespräch. Die betreffende Person praktiziert das Ritual jeden Morgen. Sie scheint sowieso alles richtig zu machen. Ich wünschte ich hätte mein Leben so im Griff.


Vielleicht hat es mit Dankbarkeit zu tun?

Grundsätzlich löst es in mir Skepsis und Widerstand aus, wenn ein Trend die Gesellschaft erfasst. Vor allem wenn es sich dabei um ein Lifestyle-/Mindset-Ritual handelt. Oder wie auch immer man das nennen will. Jedenfalls deckt es sich selten mit dem, was ich täglich um mich herum (und in mir selbst) wahrnehme.


Wenn wir alle dankbar wären und uns bewusst über das Schöne in unserem Leben freuen würden, dann müsste sich doch unsere Welt anders anfühlen und anders aussehen? Bei mir ist das definitiv nicht der Fall. Mein Sorgenbarometer ist meist schon frühmorgens auf Hochdruck und ich denke zuerst einmal an all die Dinge, auf die ich heute absolut keine Lust habe.


Alicia Keys schreibt in ihrer Biographie, dass sie jeden Morgen um vier mit einem Lächeln auf dem Gesicht aufwacht. Dann meditiert sie zwei Stunden lang. Spätestens nach dieser Seite des Buches wurde sie mir unsympathisch. Vor allem, weil sie anscheinend erst um Mitternacht ins Bett geht und das alles mit 4h Schlaf managt.


Ich zähle mich grundsätzlich zu der Sorte Menschen, die ein grosses Mass an Disziplin auf den Weg mitbekommen haben. Aber eine gesunde Morgen-Routine beizubehalten, fällt mir trotzdem immer wieder schwer. An Ideen zur Gestaltung fehlt es mir definitiv nicht. Was mir guttun würde, weiss ich ebenfalls. Nur an der Umsetzung hapert es.


10 Dinge, die wir jeden Morgen für einen freudigen Start tun sollten:

(Ein Zusammenschnitt aus meiner Google-Recherche und dem, was ich immer wieder mal zu hören bekomme):


  • Immer zur gleichen Zeit aufstehen (die Snooze-Funktion des Handys ist laut Studien ein Werk des Teufels)

  • Tief einatmen und dankbar sein

  • Ein Glas Wasser trinken

  • Stretchen/Yoga/Fitness

  • Meditation

  • Sonne tanken

  • Etwas inspirierendes/geistreiches lesen

  • Tagebuch schreiben

  • Das Bett machen (Hillary Clinton: “*First thing you do: Make your bed. You don’t want to get back into it”)

  • Frühstück essen


Aus meinem regen sozialen Austausch und der langjährigen Erfahrung als Lehrperson weiss ich zumindest folgendes: die wenigsten Menschen lesen noch. Die wenigsten Menschen schreiben noch. Also fallen schon mal diese zwei Punkte weg.


5 Dinge, die hingegen die meisten Menschen am Morgen machen, sind:


  • Snooze-Funktion mehrmals hintereinander aktivieren

  • Whatsapp-Status, Insta- und Facebook-Feed checken

  • Nach mehrmaliger Aktivierung der Snooze-Funktion schliesslich zu spät aufstehen und im Stress sein

  • Kaffee trinken (vorher geht gar nichts) und kein Frühstück essen

  • Nachrichten lesen (z.B. 20min) und mit negativen Schlagzeilen in den Tag starten


Doch zurück zum Dankbarkeits-Ritual. Nach dem geistreichen Gespräch mit der anfangs erwähnten Person, habe ich am folgenden Morgen sein Ritual probeweise durchgeführt (trotz leichtem Kater). Dabei habe ich eine interessante Beobachtung gemacht: die drei Dinge, für die ich dankbar bin, fielen mir ohne gross Überlegen ein. Bei den drei Dingen, auf die ich mich heute freue, geriet ich schon nach dem ersten Punkt ins Stocken. Natürlich könnte man irgendwelche banalen Dinge aufzählen. Aber ich wollte drei Dinge notieren, auf die ich mich wirklich freue.


Das hat mich zu Nachdenken gebracht.


Dankbarkeit versuche ich schon seit längerer Zeit zu praktizieren. Es hilft mir, auch in schwierigen Zeiten das Gute zu sehen und nicht in Negativität abzurutschen. Ich führe zwar kein Dankbarkeits-Tagebuch, aber ich versuche mich tagsüber immer wieder zu besinnen.


Offenbar gehen aber “Dankbarkeit” und “Freude” nicht Hand in Hand.


Dankbarkeit ist etwas, das ich aus der Retrospektive schöpfen kann. Es sind eher langfristige Komponenten in meinem Leben, auf die ich bewusst zurückschauen kann.

Wenn ich einen offenen Blick auf mein Leben werfe, dann gibt es immer Dinge, für die ich dankbar sein kann.


Aber Freude ist im Hier und Jetzt verankert, gleichzeitig nach vorne orientiert und ein aktiver Prozess. Sich zu freuen, birgt ein gewisses Risiko. Es heisst, vollständig im Moment aufzugehen und loszulassen. Zudem in positiver Erwartung und Neugier zu leben auf das, was heute oder morgen auf mich zukommen wird.


Freude hat für mich insofern auch etwas mit Hoffnung zu tun. Ich kann nämlich nicht mit Sicherheit sagen, ob das, worauf ich mich freue, auch tatsächlich so eintreffen wird. Der Pessismist wappnet sich deshalb, indem er gleichzeitig das Worst-Case-Szenario entwirft. Dann ist er nicht enttäuscht, wenn die Freude nicht eintrifft, weil er ja immer mit beiden Situationen rechnet.


Auch wenn wir es nur ungern zugeben: Tendenziell sind die meisten von uns eher auf der pessimistischen Seite. Wir wagen es nämlich selten, den Momenten der Freude zu 100% zu trauen. Brené Brown spricht von “lean into joy” - sich “ganz in die Freude hineinlehnen/hineinzugeben”. Laut ihren sozialwissenschaftlichen Studien fällt das vielen Menschen schwer. Wir freuen uns lieber nur ein bisschen, bleiben aber auf der Hut, falls doch noch etwas Negatives eintrifft. Das ist nicht weiter erstaunlich:


Ungetrübte, grenzenlose Freude birgt tatsächlich ein gewisses Risiko: Das Risiko enttäuscht oder verletzt zu werden. Also gehen wir es lieber gar nicht erst ein.

Brené Brown schildert in ihrem Buch, wie sie voller Freude und Dankbarkeit am Bett ihrer schlafenden Kinder steht. Sie freut sich über ihre Familie und fühlt sich reich beschenkt. Im selben Moment durchfährt sie der Gedanke: Was, wenn eines meiner Kinder morgen auf dem Schulweg vor ein Auto rennt? Und schon ist der Moment der Freude zunichte und sie verfällt in Sorgen und Ängste.


Das Beispiel mag übertrieben und dramatisch tönen. Aber wenn wir ganz ehrlich sind, dann kennen wir wohl alle diese Momente. Lieber sich nicht ganz der Freude überlassen. Lieber ein bisschen mit Vorsicht danebenstehen und mal abwarten. Ungehemmte Freude löst bei vielen Menschen Skepsis und Abwehr aus: Das kann doch nicht echt sein. So ein Verhalten ist naiv. Die Realität ist anders.


Den Effekt dieser vorsichtigen Zurückhaltung unterschätzen wir oft. Dankbarkeit und Freude sind zwei grundlegende Faktoren, die zu unserer mentalen Gesundheit und Resilienz beitragen. Wenn wir in guten und unbeschwerten Zeiten nicht voll davon zehren und uns bewusst darin üben, haben wir in herausfordernden und schwierigen Zeiten oder Lebenskrisen keine Ressourcen, aus denen wir schöpfen können.


Sich zutiefst zu freuen und dankbar zu sein für das viele, das wir haben, ist eine Kunst, die wenige von uns beherrschen. Sie hat etwas mit der Bereitschaft zu tun, sich immer wieder für das Leben zu öffnen und verletzlich zu machen. Gleichzeitig schafft sie ein Fundament, auf dem wir auch in schwierigen Zeiten Halt finden.

Eine Freundin meinte kürzlich: „Ich habe das Gefühl, dass der Druck von aussen immer mehr zunimmt. Es gibt so vieles, das mir Sorgen und Ängste bereitet und es scheint nicht aufzuhören. Aber in all dem drin, versuche ich gerade immer mehr in der Freude und Dankbarkeit zu bleiben. Ich glaube das ist der Schlüssel. Jetzt im Moment zu leben und ungeachtet aller äusseren Umstände das zu sehen, was gut und schön ist.“


Diese einfachen Worte haben mich tief bewegt. Wir wissen nicht, was morgen ist. Wir wissen nicht, was uns der nächste Winter bringen wird. Aber wenn wir uns nur mit negativen Prognosen und Worst-Case-Szenarien umgeben, nehmen wir dem Schönen und Guten dieses Sommers die Kraft. Wir nehmen ihm die Chance, unsere emotionalen Tanks wieder aufzufüllen. Wir können Morgen nicht beeinflussen. Wir wissen nicht, was in der nächsten Stunde alles passieren wird. Aber wir können versuchen im Jetzt leben.


DANKE fürs Lesen ;-)

 
 
 

4 comentarios


Christian Weidmann
Christian Weidmann
26 jun 2022

Lebe und sein dankbar

Las dich treiben und spüre das Leben Geniesse es, akzeptiere es, mit allen Höhen und Tiefen

Aus der Tiefe entsteht Grosses Hab Vertrauen in die Zukunft und sei dankbar


Danke für deinen Text und herzliche Grüsse

Christian

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wordsofkeila
27 jun 2022
Contestando a

Danke für deine Rückmeldung!

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David Pablo Cohn
David Pablo Cohn
09 jun 2022

Thank you for this! I identify with your observation that "the problem is the implementation" - I so struggle with trying to keep up affirmations and behaviors that I know I know I know will make me happier (and apparently healthier). Lately I've been trying - and so far having a bit of success - with a bit of a mind game that my wife introduced me to. Instead of slogging downstairs thinking "I don't want to do yoga, I should do yoga, I don't want to do yoga, I should..." I try to lay down an affirmation tied to my sense of identity. I try to think: "I am a person who does yoga in the morning." And someh…


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wordsofkeila
23 jun 2022
Contestando a

Dear Pablo, thanks for making the effort to translate my words. Much appreciated! Also for sharing your thoughts on this topic, which is really precious. In the end, we all struggle, don‘t we. But always climbing a bit higher too….

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