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  • AutorenbildLajescha Dubler

Zum Jahresanfang: Alles muss raus

Mein Entwurf für einen ballastfreien Start ins neue Jahr.


Vor rund 3 Jahren befassten wir uns intensiv mit der Idee eines Tiny-Houses. Ein Tiny-House ist ein Haus in Miniatur-Form – auf Rädern, jedoch näher beim Haus als beim Camper. Die Bewegung hat in den letzten Jahren viel Auftrieb erfahren und die Idee hatte uns ebenfalls gepackt. Sein ganzes Hab und Gut auf das Allernotwendigste reduzieren, zurück zur Einfachheit und zum ballastfreien Leben. Das klang attraktiv und ein vernünftiger Gegenentwurf zu unserem riesigen Haus, das wir vor rund 10 Jahren gebaut hatten.


Die Pläne für den Bau eines solchen Mini-Hauses lagen schon bald auf dem Tisch, aber ich war skeptisch. War ich wirklich bereit dazu, meine Lebensweise so radikal zu verändern?

Ich bin ein strategischer Typ, der gerne die Sachen klar vor sich ausgelegt sieht. Deshalb ging ich die Frage systematisch an. Ich entwarf in meinem Tagebuch ein Szenario, in dem ich mich auf das Minimum reduzierte, das ich noch haben wollte/musste/brauchte.


Ich fragte mich in diesem Prozess: Was brauche ich wirklich, um glücklich zu sein?

Welche (materiellen) Dinge sind notwendig, damit ich mich “zu Hause”, wohl und geborgen fühle? Die Liste war erstaunlich schnell fertig. Da standen wenige Sachen drauf, wie:


  • Ein Bibliotheks-Abo, damit ich immer Zugriff auf Bücher habe

  • Musik-Instrumente und ein Ort, wo ich Musik machen kann

  • Und mein grösster Luxus: Unser VW-Bus, weil er mir das Gefühl von Freiheit gibt

Die Erkenntnis, dass ich tatsächlich sehr wenig brauche, setzte eine gross angelegte Räumungs-Aktion in Gang. Innert weniger Wochen reduzierten wir unser ganzes Inventar drastisch. Wir füllten um die 60 Stück 60-Liter-Säcke. Im Erdgeschoss machten wir eine grosse Ausstellung mit allen Einrichtungsgegenständen, die wir loshaben wollten. Fast alle Bücher gaben wir weg. Foto-Alben wurden abfotografiert und nur die Fotos mit wirklichem Erinnerungswert herausgelöst. Es war ein reges Kommen und Gehen in diesen Wochen und unser Umfeld bediente sich freudestrahlend an unseren Kostbarkeiten.


Ich habe diesen Schritt nie bereut.

Wir haben zwar den Schritt zum Tiny House letztendlich (noch) nicht gemacht. Aber die Räumungsaktion setzte viele andere Prozesse in Gang, die in dieser Zeit so wichtig waren. Es ging ums loslassen, Ballast abwerfen, sich nochmals fragen: Was brauche ich wirklich in diesem Leben? Wo ist mein Schatz? Wofür investiere ich Zeit, Geld, Platz, Raum? Auch der Entscheid, unsere erfolgreiche Band Pigeons on the Gate endgültig aufzugeben, war Teil dieses Prozesses.


Letztendlich ging es um die Frage: “Haben oder Sein?” (Erich Fromm).

Wir sind eine Gesellschaft, die sich übers “Haben” definiert. Das ist kein neues Phänomen. Fromm schrieb seinen Bestseller in den 60er-Jahren. Doch seine Worte sind nach wie vor brandaktuell. Das “Sein” scheint zwar in vielen Life-Style-Bewegungen Auftrieb erhalten zu haben, aber es hat das “Haben” keineswegs reduziert. Es ist einfach zu einer Parallelbewegung angewachsen, die wir versuchen zu integrieren. Es fühlt sich halt gut an, wenn wir sagen können, dass uns das “Sein” wichtiger ist als das “Haben”. Die Realität zeigt jedoch, dass die wenigsten von uns bereit sind, auf das “Haben” zu verzichten. Wir möchten einfach beides. Und “Haben” tun wir unglaublich viel. Das ist mir bei dieser Räumungsaktion nochmals aufgegangen.


Allerdings ist es eine Illusion, dass "Haben" und "Sein" friedlich nebeneinander existieren.

Es ist wie “dä Föifer und s’Weggli” behalten zu wollen. Das geht nicht. Dort, “wo wir unseren Schatz haben, ist unser Herz”. Dieses uralte Sprichwort bezieht sich nicht nur auf materielle Dinge, aber auch. Alles was wir haben oder haben wollen, besetzt einen Teil von uns. Der Verfasser des Bestsellers “Simplify your Life” (Werner Tiki Küstenmacher) geht deshalb radikal und systematisch vor. Er durchkämmt rigoros alle Lebensbereiche:

  • Sachen (alles Materielle/Besitztümer)

  • Finanzen

  • Zeit

  • Gesundheit

  • Beziehungen

  • Partnerschaft

  • Sich selbst

Tiki Küstenmacher zeigt eindrücklich auf, wie der Zustand all dieser Dinge letztendlich Spiegel unserer Seele und unseres Innenlebens ist. Das “Entrümpeln” all dieser Bereiche ist für ihn Schlüssel zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Dass er mit dieser Botschaft einen Nerv in unserer Gesellschaft getroffen hat, zeigt der Erfolg von “Simplify your life”: das Buch wurde ein internationaler Bestseller und gilt heute als Klassiker der Ratgeber-Literatur. Es hat über 40 Auslandsauflagen erreicht und verkaufte sich allein in Deutschland über zwei Millionen Mal.


Die Botschaft von Küstenmacher ist keineswegs neu. Seit es die Menschheit gibt, haben vereinzelte Stimmen immer wieder kritisch darauf hingewiesen:


Von was lassen wir uns bestimmen? Vom Haben oder Sein?

Ich hatte Küstenmachers Buch lange vor unserer Entrümpelungsaktion gelesen. Aber es war wohl ein Puzzle-Teil in dem ganzen Prozess. Ich kann ihm rückblickend nur recht geben: Die Aktion hat zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung geführt. Die grössere Einfachheit hat das Leben unkomplizierter, spontaner, ballastfreier gemacht. Ich fühle mich heute leichter, flexibler und die Angst, die Kontrolle zu verlieren oder überhaupt etwas zu verlieren, ist merklich geschrumpft. Letztendlich ist dies der Grundgedanke von Simplify: “Je komplizierter unser Leben ist, desto mehr haben wir das Gefühl, dass wir die Kontrolle verlieren; dass die Dinge etwas mit uns zu tun haben statt wir mit den Dingen.” (Planet Wissen)


Interessanterweise weitete sich bei uns der Prozess automatisch auf alle Lebensbereiche aus, die Küstenmacher in seinem Buch beschreibt. Was mit der Entsorgung und Reduzierung der “Sachen” begann, löste nach und nach in allen weiteren Lebensbereichen den Prozess der Vereinfachung aus. Heute – nach rund drei Jahren – befinde ich mich immer noch mitten im Prozess. Gerade kürzlich habe ich mit dem Thema “Beziehungen” auseinandergesetzt: Wer sind meine Freunde? In welche Beziehungen möchte ich investieren? Wieviel Zeit habe ich überhaupt dafür? Auch hier wurde mir schnell bewusst, dass eine “Entrümpelung” lange überfällig war.


Nun denken vielleicht einige Leser: Das ist ein typisches Mid-Life-Crisis-Problem...

Vielleicht. Allerdings fällt mir im Gespräch mit Gleichaltrigen oder älteren Personen immer wieder auf, dass Reduzieren bei den wenigsten ein Thema ist. Vielmehr häufen wir immer mehr und mehr an.

Ich höre zwar von allen Seiten, dass sie gerne “entrümpeln” würden, aber dass sie von vielen Dingen oder Menschen einfach nicht loslassen können.

Manchmal erzählen mir Bekannte von ihren “besten Freunden”. Beziehungen, die sie seit Jahrzehnten pflegen. Aber alles, was sie erzählen, ist problembehaftet, negativ, leer oder nichtssagend. Auf die Frage, weshalb sie diese Beziehung überhaupt noch aufrechterhalten, reagieren die meisten jedoch abwehrend: Etwas lang Bewährtes loszulassen, die “Comfort Zone” zu verlassen, auch wenn es schon lange nicht mehr mit Inhalt gefüllt ist, kommt für die wenigsten in Frage. Und so “schleppt” man es weiter mit sich, auch wenn es eigentlich nur noch Last und Mühe ist.


Dabei wäre doch der logische Prozess, dass wir mit zunehmendem Alter immer weniger haben. Schliesslich gehen wir irgendwann von dieser Welt und können nichts mitnehmen. Rein gar nichts. In den meisten Fällen lassen wir aber unglaublich viel zurück. Und das können dann die Hinterbliebenen oft mit viel Streit und Müh unter sich aufteilen, entsorgen, räumen.


Alles, was ich loslasse und nicht mehr “haben” muss, verschafft mir Zeit und Raum.

Wir unterschätzen oft, was eine grosse Wohnung/ein grosses Haus, zwei bis drei Autos, viele Besitzgegenstände, mehrere Konten und Anlagen, verschiedene Verantwortungspositionen, ein grosses Beziehungsnetz und eine volle Agenda an Zeit, Energie, Sorgen und Geld braucht. Wir möchten das alles “haben”, aber was es uns alles “nimmt” verdrängen wir gerne. Trotzdem stossen wir zeitweise immer wieder zum Kern der Dinge vor (z.B. in den Camping-Ferien) und realisieren: All das macht uns nicht glücklich.


Was macht uns denn glücklich? Was macht mich glücklich?

Obwohl ich über die vergangenen Jahre in grossem Stil entrümpelt habe, laufe ich doch immer wieder Gefahr, die entstandenen “Löcher” zu füllen. Dabei meine ich gar nicht unbedingt die materiellen “Löcher” - vielmehr Zeitlöcher, die ich früher mit Aktivitäten, Beziehungen etc. gefüllt habe. Es fühlt sich halt im ersten Moment unglaublich leer und einsam an. Wenn alle rundherum so viel haben und machen, dann kommt das schlechte Gewissen, oder das Gefühl, nicht dazuzugehören, schnell auf. Eine Freundin war vor kurzem einen Blick auf meinen Kleiderschrank und meinte lachend: “Ist das alles, was du hast?” Ich reagierte leicht entschuldigend und meinte: “Das ist doch immer noch so viel...”


Glücklich macht mich, wenn ich Zeit habe zu Sein.

Wenn mich eine spontane Anfrage von aussen nicht in ein kurzfristiges Agenda-Chaos wirft, sondern ich mit Freude und Leichtigkeit sagen kann: Komm einfach vorbei. Wenn mein Alltag nicht mit der Organisation der tausend Dinge, Verantwortungen, Aufgaben und Beziehungen überfrachtet ist, die ich noch habe. Wenn ich am Abend nicht ausgelaugt bin von der Überflutung des Tages, sondern das Zusammensein mit meinen Liebsten geniessen kann. Wenn ich auch mal Langeweile aushalten kann, ohne gleich durchzudrehen (wer Anleitungen hierfür braucht, soll sich doch mal ein paar Youtube-Clips vom deutschen Komiker Johann König anschauen). Wenn die Wohnung in einer halben Stunde geputzt ist. Wenn ich nicht überall “Nein” sagen muss, weil alle etwas von mir wollen.


Oft beklagen wir uns, dass die Zeit so schnell vergeht.

Dass schon wieder ein Jahr vorüber ist und wir den Sommer gar nicht richtig geniessen konnten. Dass der Tag nie genug Stunden hat und wir immer hinterherhinken. Dass wir ständig das Gefühl haben, nichts und niemandem gerecht zu werden.


Immer wenn ich in diese Spirale komme, versuche ich innezuhalten. Ich glaube nämlich nicht, dass es damit zu tun hat, dass ich älter werde und die Zeit einfach schneller vergeht. Ich glaube, dass es ein Zeichen dafür ist, dass ich mein Leben wieder vereinfachen sollte.

Simplify your life. Es ist gar nicht so einfach. Und doch so einfach.

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